Kultur wirkt.

 

Hans Knopper M.A.

Tina Juretzek 
Stromboli

Ausstellungskatalog  Galerie Elke und Werner Zimmer, Düsseldorf:
Tina Juretzek. Stromboli. Bilder und Zeichnungen.- 
Mit einem Text von Hans Knopper.-
12 S., 29 x 21,5 cm.-
Ausstellung vom 26. Mai bis 30. Juni 1984
 

Der Text von Hans Knopper:

Sechzig Kilometer nördlich von Sizilien, dort, wo das Tyrrhenische Meer 1500 m tief ist, ragt die Spitze des ständig feuerspeienden Berges Stromboli 900 m hoch über die Wasseroberfläche. Die Insel besteht vollständig aus ausgeworfenem Vulkanmaterial. Die Strände sind schwarz. Nach mühevollem dreistündigen Aufstieg zum Gipfel kann man den noch heute tätigen Vulkan erleben. Alle 10 Minuten kommt es zu einer Eruption. Der Ausbruch kündigt sich mit einer Explosion des zunächst austretenden Gases an, die begleitet wird von leichten Erderschütterungen. Dröhnen und Zischen leitet zur folgenden Detonation über, bei der Schlacke und glühende Lavabrocken 100 m in die Höhe geschleudert werden. Die theatralische Aktivität des Berges gegenüber der ruhigen Gelassenheit des umgebenden Meeres macht den Vulkan geeignet, direkt ins Unterbewusstsein hineinzuwirken.

Tina Juretzek hat im Sommer 1983 im Verlaufe eines Italienaufenthaltes den Stromboli bestiegen und am Rande des Kraters eine Nacht zugebracht. Die in Erinnerung an diese Reise entstandenen Arbeiten zeigen, dass sich ihre in Italien gemachten Erfahrungen im Erlebnis dieser Nacht verdichten.

Die in den Bildern und Zeichnungen wiedergefundenen Landschaften setzen häufig wiederkehrende Motive miteinander in Beziehung: Vulkane in den unterschiedlichsten Formen; Liebespaare; einzelne sitzende Frauengestalten mit einem Glas in der Hand; Gläser und Flaschen, zum Teil auf Tabletts; Fische; zu Dreiecken verkürzte Zelte, die mehrfach rauchenden Vulkanen ähnlich sehen; Sonnen, die Wärmewellen aussenden. Es ergeben sich Erinnerungslandschaften, die so in Italien nicht gesehen worden sind. Die Menschen und Gegenstände sind nicht durch eine homogene, stetig ablesbare Räumlichkeit miteinander verbunden. Dinge, die in der Wirklichkeit weit auseinander liegen, werden im Bild zusammengespannt. Die Bildräumlichkeit weist Sprünge auf. Das sich bildlesend bewegende Auge des Betrachters schließt somit keine ihm bekannten Räume, sondern solche der Vorstellung zusammen. Ausgehend von der mitschwingenden symbolischen Bedeutung des Vulkans ‑ ehemals Festes verflüssigt sich, bricht auf, kommt in Bewegung ‑ wird es Tina Juretzek möglich, aus diesem zunächst persönlichen Arbeitsansatz heraus, Weltlandschaften zu schaffen, in denen der Erdball begleitet von Saturn direkt neben Flugzeuge, Flaschen und Menschen gesetzt wird.

Seit Tina Juretzek 1978 ihr Studium an der Kunstakademie in Düsseldorf bei Professor Grote abgeschlossen hat, beschäftigt sie in ihren Bildern der Gegensatz zwischen menschlicher Figur und Raum. Die 1983 hier an gleichem Ort ausgestellten früheren Arbeiten verweisen auf die wichtige Rolle des Malprozesses, in dem auch ihre neuen Gemälde entstehen. Das sich entwickelnde Bild wird vorher von der Malerin nicht gewusst: sie tritt leer vor die Arbeitsfläche. Erste, zunächst eher zufällige Farbsetzungen bringen den Arbeitsprozess in Gang. Jeder folgende Farbauftrag ist eine Reaktion auf den vorherigen. Hierbei kann der Gleichgewichtswunsch ebenso Richtschnur zum Handeln sein wie der Wille, einen Konflikt zu entfachen. Das Bild wird zum Gegenüber. Phasen der tatkräftigen gestischen Anstrengung werden von solchen des kontemplativen Findens abgelöst. Während der Arbeit bilden sich die inhaltlichen Figurationen aus. Bis jeder Teil des Bildes der dialektischen Arbeitsweise unterzogen worden ist, verändert sich das Dargestellte häufig noch gravierend, bis ein Endstadium eintritt, das das Bild als gereiftes Wesen erscheinen lässt. In den früheren Bildern sind meist Frauenakte zu erkennen, die sich im labilen Gleichgewicht eines Farbraumes befinden. Natur‑ und Architekturrelikte treten selten hinzu. In den jetzt gezeigten neuen Arbeiten werden Gegenstände und Landschaftsteile den Personen gleichwertig hinzugefügt. Sie besitzen alle ihnen zugehörige eigenständige Räumlichkeiten, die in Konkurrenz zueinander treten. Waren in den früheren Arbeiten die Brüche in der Raumauffassung durch die Farbe noch verdeckt, so werden sie nun gezeigt, akzeptiert und in den Bildaufbau wie eine Befreiung eingebaut.

Die Zeichnungen Tina Juretzeks entstehen aus einer überwiegend kontemplativen Haltung. Unter Ausschaltung des Wollens entstehen beim Kontakt der Zeichenfeder mit dem Papier Bilder erlebter Begebenheiten. Die gezeigten Menschen ‑ Paare und sitzende Frauen ‑ befinden sich ebenfalls in einer Haltung schauender Versunkenheit. Dem Medium entsprechend sind hier Gegenstände und Phänomene stärker definiert als in den Gemälden. Mit fortschreitendem Zeichnen kommt es vor, dass eine schon vorhandene Figur nochmals verstärkt werden muss. Sie erhält nochmals Gliedmaßen oder die Haltung verändert sich. Das sind keine Reuezüge oder Korrekturen im herkömmlichen Sinne, sondern sie dokumentieren die Veränderung, der die Zeichnung aufgrund der Zeitlichkeit des Entstehungsprozesses unterliegt. Ältere Stadien der Zeichnung sollen sichtbar bleiben. Bildhafte Verknüpfungen erhält die Zeichnung durch mit dem Tuschpinsel aufgebrachte Flächen. War die Tusche stark mit Wasser verdünnt, so lässt dieser Arbeitsgang die darunterliegende Zeichnung durchscheinen. Zusammen mit der dem Papier eigenen Helligkeit entsteht eine transparente, lichte Räumlichkeit, die das Gefühl schwebender Losgelöstheit, wie auch Reisende es erleben, vermittelt.

In den Gemälden Tina Juretzeks entspringen große Bildteile der gestischen Malerei. In solchen Malphasen vollzieht sich auf körperliche und emotionale Weise die Aneignung des Bildes. Acrylfarben formen die mehr flächendeckenden Teile des Bildes, verschiedenfarbige Ölkreiden ‑ wegen der nötigen Strichbreite z.T. selbst hergestellt, hinterlassen impulshafte Hieb‑ und Kratzspuren in der frischen Farbe. Grate entstehen. Damit die Stifte auch den Bildgrund erreichen können, besteht der Bildträger aus Pappe, die, da sie an der Wand befestigt wird, dem Druck Widerstand leisten kann. Zusätzlich klebt die Malerin mittels Kleister gerissenes, zuvor selbst eingefärbtes Papier in die Bilder. Seit kurzem schneidet sie es auch aus, nachdem sie zum Teil schon vorher auf dem Boden auf das Papier gezeichnet hat. Oder sie reißt das Papier in Vorwegnahme des Gegenstandes, den es darstellen soll, in seine ungefähre Form. Auf den eingeklebten Papieren können Spuren sein, die aus anderen Zusammenhängen stammen, z. B. tragen sie zufällige Farbspritzer, wenn sie vorher als Abdeckpapier gedient haben. Diese Papiere werden auf schon bemalte Stellen geklebt und schaffen so Raum für Veränderungen. Der vorherige Zustand bleibt unter dem aufgebrachten Papier erhalten, Kratzspuren und unterschiedliche Farbvolumen drücken sich durch die Auflage durch und bleiben als Flachrelief sichtbar und wirksam. Um die Rigorosität des Eingriffes ins Bild mittels der Collage zu mindern, wurden in früheren Bildern die Schnitt‑ und Risskanten der Papiere durch Farbe verdeckt und ein stufenloser Übergang geschaffen. Jetzt, da stärkere räumliche Kristallisationen möglich geworden sind, die räumliche Vielfalt zugenommen hat, werden diese Brüche gewollt und stehengelassen.

Jedes Bild setzt sich aus vielen Schichten zusammen und erhält eine starke Materialhaftigkeit. Auch wenn der Beschauer die Gestaltungen früherer Schichten nicht wahrnehmen kann, so teilt sich ihm das Gewachsene, Gereifte des Bildes mittels seiner Oberfläche mit. Ähnlich wie bei den Zeichnungen spielt das zeitliche Element des Entstehungsprozesses eine große Rolle. So wandert die Sonne auf dem Bild „Lorbeer und Rotwein" in mehreren Etappen über das Bild, wobei sich ihre Farbe von rot über gelb und blau zu grauer Helligkeit verwandelt. Die im Bild in tieferen Schichten gespeicherten Spuren vergangener Schaffenszeiten können von der Künstlerin durch Abreißen oberer Schichten ‑ wie beispielsweise auf dem Bild „Brechende Räume" wieder freigelegt werden.

In den hier vorgestellten Arbeiten findet eine Selbstvergewisserung statt. Zeitlich zurückliegende Erfahrungen, räumlich entfernte Dinge werden durch ihr gleichzeitiges Auftreten im Bild auf ihre Bedeutung für die Künstlerin befragt. Die Beziehung, die die unterschiedlichen Bereiche in den Gemälden eingehen, ist erkämpft. Erinnerungen aus ihrer Kindheit, ihrem Leben und ihren Erfahrungen liegen wie transparent übereinander. Die Einheit, die in den Bildern Gestalt gewinnt, ist letztlich nur deshalb möglich, weil die Künstlerin trotz aller Gefährdungen die geistige Einheit in jedem Bild neu herzustellen in der Lage ist.
 

Hans Knopper 1984

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