Kultur wirkt.

 

Hans Knopper M.A.

Tina Juretzek
Bilder und Zeichnungen aus 12 Jahren, 1980-1992

Ausstellungskatalog  Städtische Galerie im Deutschen Klingenmuseum Solingen:  
Tina Juretzek, Bilder und Zeichnungen aus 12 Jahren, 1980-1992.- 
Mit Texten von Hans Knopper und Susanne Wedewer.-
64 S., 28 x 21 cm.- 
Ausstellung vom 13.9. bis 25.10.1992
Aufl.: 700 Ex., 12 Kataloge als Vorzugsausgabe mit einem Original der Künstlerin.-

Text von Hans Knopper:

Zur Malerei Tina Juretzeks

6 Wochen vor Ausstellungsbeginn wird das früheste der großen Friesbilder von Tina Juretzek aus dem Jahr 1985 in unseren Ausstellungsräumen montiert: Fototermin für ein Gemälde. Zwei Tage lang entfaltet das Gemälde seine Ausstrahlung, zieht den zufällig vorbeikommenden Betrachter an, verwickelt ihn in eine Auseinandersetzung. Nicht nur die enorme Größe des Bildes beeindruckt, sondern wie diese Größe sich dem Beschauer vermittelt und aufschließt. Es sind die über das ganze Format verteilten zeichnerischen Chiffren, deren Entschlüsselung mehr oder weniger eindeutig geleistet wird. Tiere, Räder, Gläser, Pokale oder Eierbecher wechseln mit zersplitterten Farbflächen und großen Figuren ab. Die Wiedererkennbarkeit der Kleinelemente ermöglicht das Abenteuer des Sicheinlassens auf das Unbekannte der ungedeuteten Farbflächen, die die Bildfläche in die Tiefe öffnen oder als Barrieren die Bildlektüre verlangsamen. Von Anfang an sind die Augen des Betrachters auf ein Voran‑ und Weiterschreiten im Bild programmiert. Unbemerkt wird er so auch ständig mit der Frage nach der Art und der Sinnhaftigkeit der Verknüpfung der Elemente konfrontiert.

Erkennt er das zeichnerische Motiv der Schiene, so ist die Assoziation vorbeiziehender Reiseeindrücke vorbereitet. Ebenso das extreme Querformat leuchtet nun aufgrund seiner narrativen Qualitäten ein. Als Gegenpol und Ergänzung zu dieser horizontalen Ausdehnung der „Erzählung" erzeugt die Oberfläche des Bildes eine hinter ihr liegende Tiefe. Nicht allein die unterschiedlichen Raumwerte der Farbe, sondern vor allem das Schrundige, teilweise Aufgekratzte der Maloberfläche, die zahlreichen übereinanderliegenden und zusammengewachsenen Papier- und Farbschichten, zeigen, dass jeder Bildort intensiv durchgearbeitet wurde, dass vorherige Malzustände unter der Oberfläche wie versiegelt aufgehoben sind. Diese Erkenntnis erleichtert einerseits dem Betrachter das Weiterschreiten zu anderen Bereichen des Gemäldes, andererseits wird er mit der künstlerischen Fragestellung, der Auseinandersetzung mit den Raumbezügen vertraut gemacht. 

In der Art der Verknüpfung und Verschmelzung der in ihrer Genese unterschiedlichen Bildelemente ‑ das Einkleben und Einarbeiten vorproduzierter Zeichnungen in eine extrem prozesshafte Malerei ‑ besetzt Tina Juretzek seit der Mitte der 80er Jahre eine eigenständige stilistische Position innerhalb der zeitgenössischen Malerei. Der Paul Klee‑Schüler Günter Grote war ihr Lehrer an der Kunstakademie Düsseldorf. In seinen Kolloquien stellte er an die ihm gezeigten Schülerarbeiten mit all ihren Bildeinfällen und Zeichenstilen immer die Frage nach deren Notwendigkeit und Wahrhaftigkeit. Präzise künstlerische Selbstkritik als schmerzhaftes aber notwendiges Korrektiv innerhalb des Gestaltungsprozesses wurden so der jungen Künstlerin selbstverständlich.

Ein Kristallisationspunkt künstlerischen Interesses bildet von Anbeginn das Verhältnis von Figur und Grund. Welche Entsprechungen und welche Gegensätze bestehen zwischen einer Person und ihrer Umgebung im Bild? Körperraum steht gegen Freiraum. Körperliche Konzentration steht gegen landschaftliche Weite und Ausführlichkeit. Die Landschaft im engeren und im weiteren Sinne ist von nun an Hauptthema für Tina Juretzek. Ob es Bilder von städtischen Plätzen, Nahansichten von Pflanzen oder Ölbilder mit einem stark ausgeprägtem Zeichenduktus, der den Bildraum zu verstellen scheint, sind, alle diese Bildfindungen sind aus der Suche nach einer anderen, eigenständigen Bildhierarchie entstanden. Das, was Tina Juretzek als formale Entsprechung ihres Weltgefühls findet, ist die Verwendung der Collage in ihren Arbeiten. Oben und Unten im Bild bleiben dabei erhalten, die figurative Darstellung wird nicht ausgeschlossen, eingeführt werden dafür zeitliche Brüche im Bild. Wie Reflexe auf eine andere Wirklichkeit sind zerschnittene Zeichnungen zunächst scharfkantig, später teilweise übermalt, in die Gemälde eingeklebt.

So wie Tina Juretzek diese Zeichnungen als präzise Inhaltsdefinitionen in Ergänzung zu den emotionalen Werten der farbigen Malerei einsetzt, weitet sie den künstlerischen Schaffensprozess zeitlich aus. Sie bezieht etwas in ihren Gestaltungsprozess mit ein, was in der Entstehung schon eine Weile zurückliegt und in keiner Weise für die dann ausgewählte Stelle im Bild hergestellt sein kann. Diese Technik spiegelt den Anspruch der Künstlerin wider, Gestaltungen nicht nur aus dem Moment und dem Bauch heraus zu vollbringen, sondern eine über den Schaffungsprozess hinausgehende Ganzheit zu erreichen. So entsteht eine spezielle Art von geistigem Klang, der den Malereicollagen anhaftet, und der den Zusammenhalt ihrer Bildwelt begleitet.

Noch Mitte der 80er Jahre hatte die Art und Weise, wie Tina Juretzek den Malprozess ablaufen ließ und auf seine absichtsvolle Steuerung weitgehend verzichtete, besonderes Gewicht: keine vorherige Planung des Bildes, was Inhalt oder Gestalt anbetrifft, möglichst frei und leer vor die straff aufgespannte Arbeitsfläche zu treten und sich dem zu überlassen, was kommt. Dann in der prompten Korrektur emotional Entstandenen die gefundenen Formulierungen zu klären und zu einem Bild wachsen zu lassen. Sozusagen als Lohn dieser von Gefährdungen nicht verschont bleibenden Auffassung konnte Tina Juretzek 1984 den Bildfindungsprozess fast als Spiel beschreiben: „Mein ganzer Atelierboden liegt voll mit Papieren. Ich wate darin herum. Es sind Papiere, die ich auf dem Boden bemale, um sie später in großen Bildern weiter zu verwenden. Es ist ein sehr freies, lustvolles Spiel, in dem ich technische Möglichkeiten ausprobiere, mit Schablonen arbeite, spritze, tropfe, sprühe; auch zeichne ich auf dem Boden, wende mich Motiven zu, die mir spontan einfallen und die ich bearbeite, ohne dass gesichert sein muss, dass sie später in einem Bild Verwendung finden. Daneben entstehen auch einfarbige Papiere, die ich später wie Buntpapier verwende. Die Bogen zerreiße oder zerschneide ich dann und klebe sie auf den vorbereiteten Karton auf der Wand. Ich lasse mich inspirieren und leiten von dem, was ich in den Abrissen vorfinde. Ich verbinde die Teile an der Wand, indem ich hineinzeichne und male. Im Laufe des Arbeitsprozesses bekommt das Bild seine eigene Geschichte und eine gereifte Oberfläche aus vielen Schichten. Oft dauert es sehr lange, bis ich das Bild gut kenne. Es ist wie ein Tanz mit dem Bild. Berührung und Bewegung. Wenn dieser Punkt erreicht ist, dann weiß ich was es werden soll, und das Bild zeigt mir, was es werden will." ') 

Seit Tina Juretzek 1984 die Vulkaninsel Stromboli besucht hatte, belebten Paare, Frauengestalten, Insekten ihre Zeichnungen und Bilder. Gegenstände wie Gläser, Flaschen, Zelte, Berge, Räder, Schienen, Krüge und Kelche waren Elemente der Landschaften, die die Umgebung für die Paare und Gestalten bildeten. Gläser, Flaschen und Trinkgesten sind seit dem 17. Jahrhundert Symbole für das weite Spektrum der Vitalität, der Lebenslust und deren Gefährdung. Die Kommunikation der Elemente untereinander brachte die Malerin im Bild in Gang. So entstanden persönliche Erinnerungslandschaften, die entsprechend dem Selbstverständnis der Künstlerin Weltlandschaften genannt waren.
 

Die Friese
Die Arbeitsweise Tina Juretzeks zielt immer auf eine ganzheitliche Darstellung ab, die aus den Quellen der psychischen Tiefe, der persönlichen Wahrheit gespeist wird. Verständlich ist daher, daß viele Arbeiten in extremer zeitlicher Nähe zueinander entstanden sind. Teilweise kann die Künstlerin noch die Reihenfolge, in der die einzelnen Blätter innerhalb einer schöpferischen Phase entstanden sind, erinnern und teilweise schließen sich rückblickend die Arbeiten aufgrund ihrer großen Nähe zur jeweiligen emotionalen Befindlichkeit fast tagebuchartig zusammen. Wenn man gedanklich diesen Hang zum Kontinuum innerhalb der künstlerischen Vorgehensweise in die Zukunft verlängert, dann versteht man eine der künstlerischen Voraussetzungen für die Entstehung der übergroßen, bandartig querformatigen Malereicollagen.

Die drei großen Friesbilder, die zwischen 1985 und 1988 entstanden sind, bilden den herkulischen Höhepunkt dieser künstlerischen Zielsetzung und markieren, wie die weitere Entwicklung zeigt, einen Wendepunkt im Werk Tina Juretzeks. Die Friese sind als Extrem der oben beschriebenen Malhaltung aufzufassen. Eine Strecke von über 20 m Leinwand in malerisch offener Form zu bewältigen, heißt auch, daß der Malweg mit dem Lebensweg übereinandergelegt wird, heißt, daß sich die Künstlerin wie befreit und gleichzeitig blind in ihrem Bild, im schon gemalten wie im noch kommenden Teil, bewegen können muß. Als ich zum erstenmal eines dieser Friese sah, war ich gleichermaßen begeistert und erschrocken Begeistert über die schier übermäßige künstlerische Schaffenskraft, erschrocken von der Frage, ob eine solche Kraft endlos fließen kann.

Die Beschreibung der Aufgabe, die die Künstlerin sich mit den Friesen gestellt hatte, liest sich im Nachhinein wie die Anweisung für ein Experiment. Tina Juretzek schrieb 1988: „Die Überlegung war folgende: Wenn man das Ganze (gemeint ist das ganze Friesformat, d. Verf.) nicht sieht, wenn die Leinwand an beiden Seiten eingerollt ist, wenn man immer nur Teilabschnitte erarbeitet, bei denen man auf diesen einen schon bemalten Meter reagiert, der vom vorhergehenden Teil herausragt, und wenn man das mehrere Male wiederholt, bei jedem neuen Stück vom Vorhergehenden etwas mit hineinnimmt, ohne es dabei zu verändern, als ,Sauerteig' sozusagen, ‑ wird dann wohl das Ganze stimmen?"2) Es stimmt. So wie auch die in Serie entstandenen Zeichnungen in diesem Sinne stimmen, oder eine Folge ihrer Gemälde. Es ist weniger ein größeres Maß an Wahrhaftigkeit, Erkenntnis oder gar Freiheit, was in den Friesen realisiert ist, sondern vielmehr ist aus dem „Sauerteig" ein stetiges, langsam pulsierendes Fließen erwachsen, das alle Einzelemotionen des Bildes einem übergeordneten Prinzip einfügt: dem schon oben beschriebenen Klang des Bildes, der einen verbindenden Raum stiftet. An den Friesen, denen sozusagen das Motiv des langen horizontalen Reisens zugrunde liegt, fiel der Künstlerin mit zunehmendem zeitlichen Abstand mehr als in den Einzelbildern der immer gleiche Urgrund, aus dem die Emotionen hochsteigen, auf. Die eingearbeiteten Zeichnungsteilstücke erscheinen ihr heute nicht mehr als Formulierungen, die eine neue Einheit stiften, sondern sie sieht in Ihnen kristalline Zersplitterungen ihrer eigenen Grundhaltung. Die sich seit der Entstehung der Friese abzeichnende Veränderung in der Malerei Tina Juretzeks wird auch lesbar, wenn man die Entwicklung der Bildformate verfolgt. Denn diese haben sich seit ihrer Akademiezeit zuerst von kleinen in der Mehrzahl Querformaten über Hochformate und Beinahe‑Quadrate, die danach entstanden, kontinuierlich zu deutlichen und extremen Querformaten bis hin zum Riesenfries gewandelt. Die Arbeiten der letzten 2 ‑ 3 Jahre lassen jedoch eine deutliche Wende erkennen. Die Formate sind in der Regel wieder kleiner geworden, und das erzählerische Querformat ist dem konzentrierten, an der Senkrechten und an der menschlichen Figur orientierten Hochformat gewichen. Inhaltlich auffällig ist die betonte Hinwendung zu wenigen einzelnen Kraftfeldern, die eine stetige und kontinuierliche, kontemplative Ausstrahlung besitzen. Lag in früheren Bildern das Vorhandensein eines zufällig entstandenen Farbflecks in dessen Entstehungs‑Authentizität begründet, so sind die Arbeiten heute sehr viel stärker durchgearbeitet und planvoll entstanden. Zufällige Malspuren scheinen nicht mehr zugelassen zu sein. Anstelle des künstlerisch‑emotionalen Prozesses wird nun den Gesetzlichkeiten des Materials mehr vertraut: In den Zeichnungen aus dem Jahr 1990 verwendet die Künstlerin Kopierstifte auf nassem Papier. Die Farbigkeit des Zeichenmittels schlägt in violette Töne um und wandert nach weitgehend eigenem Gesetz über die Fläche. Eingefangen sind diese in die Freiheit entlassenen Materialien in eine Kreis- oder Kugelform. In den jüngsten Gemälden tauchen in entsprechendem Sinn gemalte Stellen auf, an denen die fast flüssige Acrylfarbe so konzentriert dicht übereinander geschichtet ist, daß sie aus der Bildfläche sozusagen ausbricht und sich freie Bahn schafft und damit Gesetze postuliert, die dem Plan und dem Eingriff der Künstlerin ununterworfen bleiben. Tina Juretzek hat die rückhaltlose offene Form der 80er Jahre zugunsten einer eher intellektuell organisierten Formensprache zu überwunden.

Beibehalten, wenn auch in der Anzahl reduziert, sind die figurativen Elemente: Figur, Kelch und Glas. Allerdings treten die Ähnlichkeiten dieser  „Gefäße" in den Vordergrund. Bei einem meiner letzten Atelierbesuche zeigte Tina Juretzek mit ein kleines Foto einer Quelle, das ihr aufgefallen war. Man sah das Wasser sich aus dem Quellbereich über einen taillenschmalen Wasserfall in einen Teich ergießen. Kelch, Quelle und Figur werden sich im Werk Tina Juretzeks immer ähnlicher. Sind Kelch und Quelle zu bedeutungserweiternden Metaphern für die menschliche Figur geworden?
 

1) Ausst.‑Kat. Wuppertal 1987: Aus Privatbesitz für Wuppertal, S. 40. ‑ Von der Heydt‑Museum Wuppertal
2) Ausst.‑Kat. Düsseldorf 1988: Meine Zeit ‑ Mein Raubtier, S. 146. ‑ Autonome
Ausstellung, Kunstpalast Düsseldorf

Hans Knopper 1992

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